Das Erkennen der Wirklichkeit
Abstract:
Der Artikel bietet einen kurzen Überblick über die philosophische Diskussion zum Thema Ästhetik und beschreibt einen Aspekt der Nachhaltigkeit, der direkt auf unsere heutige soziale Verfasstheit Bezug nimmt. Nachhaltige Schönheit als Information des Menschen über sich selbst und über die Gesellschaft, in der er lebt. Indirekt formuliert wird der Anspruch an heutige Gestaltende, sich ihrer Verantwortung beim Gestalten der Dinge bewusst zu sein und damit aktiv auf den Zustand der sozialen Plastik einzuwirken. (Vortrag vor Studenten der ecosign
-Akademie für Gestaltung in Köln 2014).
Das Erkennen der Wirklichkeit
Als Künstler und Maler gebeten zu werden, etwas zum Thema „Nachhaltigkeit der Schönheit“ zu sagen, zu schreiben, bringt mich gleich in zwei schwierige Situationen zugleich. Nämlich erstens in die, dass ich als bildender Künstler ja eigentlich gar nicht mit Worten arbeite, sondern mich – sprachlos – durch meine Bilder ausdrücke, ich äußere mich durch Formen, Farben und Proportionen, nicht durch Worte.
Und zweites, indem ich als Künstler Schönheit nicht mit einem „interesselosen Wohlgefallen“ betrachten kann – und nur dieses erlaubt nach Kant überhaupt ein allgemeingültiges Urteil zu einem Objekt (Immanuel Kant)
Ich kann also kein solches „allgemeingültiges Urteil“ abgeben, denn natürlich nehme ich Schönheit mit meinen eigenen subjektiven Empfindungen wahr. Denn es ist wahr, dass es keine Wahrnehmung ohne Wahrnehmenden geben kann, oder, um mit Agnes Martin zu sprechen: „Selbst wenn mein Urteil auch nur die Wichtigkeit eines Sandkorns am Strande hätte, so bin ich doch ein Sandkorn.“ (Agnes Martin zitiert nach Dieter Schwartz, 1992, S. 49/50)
Das Thema „Nachhaltigkeit der Schönheit“ stellt also im Grunde die Frage: Was ist Schönheit überhaupt? Was ist schön? Und, Warum? Sind wir und unser Bewusstsein, unsere Sinne und unser Verstand nicht den jeweiligen Moden des Zeitgeistes unterworfen? Kann es das überhaupt geben, eine Nachhaltigkeit der Ästhetik, der Kunst?
Die Fragen, Deutungsversuche, Betrachtungen, Schlüsse und Erklärungen der verschiedenen Denkschulen und Philosophen füllen unzählige Schriften der Natur- und Geisteswissenschaften vieler Jahrhunderte, ja, Jahrtausende. Hier zeigt sich schon die Nachhaltigkeit der Frage selbst – Was ist Schönheit?
Warum wird heutzutage eine Keramik-Vase von Berndt Friberg selbst nach Jahrzehnten als so „schön“ empfunden, dass die Auktionspreise dafür in die Tausende gehen?
Warum gibt ein Mensch von heute Hunderttausende Euros für eine kleine Marmorfigur – etwa für ein spannengroßes Kykladen-Idol – aus, die vor Tausenden von Jahren geschaffen wurde?
Warum sind ein Radio von Dieter Rams oder eine Küchenuhr von Max Bill zu gesuchten Sammlerstücken geworden?
Kann es sein, dass die Dinge mehr sein können, als die Materie, aus der sie gemacht wurden?Kann es sein, dass die Dinge mehr sein können, als der Arbeitsaufwand, der zu ihrer Herstellung nötig war? Kann es sein, dass wir durch manche Gegenstände an Ideen und Erkenntnisse „erinnert“ werden, die in uns latent vorhanden sind, an die wir aber durch die Dinge eben erst wieder-erinnert werden, wie es Platon in seinem Anamnesis-Konzept in den Menon- Phaidon und Phaidros-Dialogen dargestellt hat? – Schönheit also als Wieder-Erinnern an unser wahres tiefes Selbst?
Dass sich also in den Dingen nicht nur die Materie und die Energie befinden, sondern auch die Ideen, der Geist und das Bewusstsein des Erschaffers, der Erschafferin? Dass das Ding also – der geschaffene Gegenstand – als eine Art „Gefäß“ für den erschaffenden Geist, für die Idee dient?
Wie es auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik ausdrückt:
„[…] Die echte Darstellung wird deshalb nur da zu suchen sein, wo die Sache durch ihre
äussere Erscheinung und in derselben die Erklärung ihres geistigen Inhalts gibt, indem das
Geistige sich vollständig in seiner Realität entfaltet und das Körperliche und Äussere somit
nichts als die gemäße Explikation des Geistigen und Inneren selber ist. […]“
(Hegel, 1823, S. 546)
Oder, wie es der Philosoph Alexander Gottlieb Baumgarten in seinem Werk „Aesthetica“ formuliert hat, dass die Schönheit sich nämlich definiere durch eine Übereinstimmung des Gedanken mit dem Ausdruck/dem Tun und dem Gegenstand selbst/dem Ding (Baumgarten, 1750/58)
Aufs Tun bezogen meint das: Die Einheit des Schaffenden mit dem Schaffen und dem Geschaffenen. Aufs Schauen bezogen: Die Einheit des Sehers, des Sehens und des Gesehenen. – Das ist die eigentliche Magie der Kunst – oder die Magie dessen, was Kunst vermag.
Wir berühren hier Themenkomplexe, die vom den altindischen vedischen Wissen bis hin zur modernen Quantenphysik reichen. Wenn wir in den Dingen diesen Geist, diese Ideen, wahrnehmen – so können wir auch mit diesen Ideen selbst über die Jahrhunderte hinweg in Kontakt treten, einen Dialog beginnen. Dann schaut uns, dann schaut uns nämlich unvermittelt das Bildnis selbst an (John Berger, 1989, S.13). Und es ist diese Resonanz, die in uns nach schwingt als einem Gefühl der Schönheit zu dem Betrachteten.
Schon 1834 schrieb Fürst von Pückler-Muskau:
„Denn die Hauptidee, welche ich der Fassung des ganzen Planes zum Grunde legte, war
eben keine andere als die, ein sinniges Bild […] auf eine solche Weise darzustellen, daß sich
diese Idee im Gemüt des Betrachters sozusagen von selbst entwickeln müsse.“
(zitiert nach Friedrich Georg Jünger, 1960, S. 176)
Meistens erleben wir diese Einblicke in die Ideenwelt eher als zufällig und plötzlich. Ein Beispiel, wie eine solche „Wahr-Nehmung“, eine Beobachtung, eine Beobachtung eines Kunstwerks den Beobachtenden verändern kann, hat Josef Beuys wenige Tage vor seinem Tod in seiner Rede „Mein Dank an Wilhelm Lehmbruck“ in sehr einfachen, aber deutlichen Worten vorgetragen. Hier der betreffende Auszug.
„… Wie konnte ein Mensch, der, nachdem ich ein ganz kleines Bruchstück seines Werkes und
das noch als Photographie einmal in meine Hände bekam, in mir den Entschluß erzeugen,
mich mit der Plastik, mich mit der Skulptur auseinander zu setzen? Wieso, wieso konnte ein
Toter mir so was lehren, etwas Entscheidendes für mein Leben festlegen?1) Denn ich selbst
hatte es aus meinem Suchen heraus eigentlich bereits anders festgelegt, denn ich befand
mich schon inmitten eines naturwissenschaftlichen Studiums. Ich bekam also dieses Büchlein
ganz zufällig, das auf irgendeinem Tisch lag zwischen anderen ziemlich zerrupften kleinen
Heftchen in die Hand, schlug die Seite auf und sah eine Skulptur von Wilhelm Lehmbruck.
Und unmittelbar ging eine Idee auf, eine Intuition also: Skulptur – mit der Skulptur ist etwas zu
machen. Alles ist Skulptur – rief mir quasi dieses Bild zu. Und in dem Bild sah ich eine Fackel,
sah eine Flamme, und ich hörte: „Schütze die Flamme!“ (Beuys, 1986, zitiert nach
L. Schirmer, 2006, S.11-13)
Dieses Erlebnis, das mich durch den Krieg hindurch begleitet hat, hat nach dem Kriege dazu
geführt, daß ich mich mit der Bildhauerei, mit der Plastik auseinander gesetzt habe…“
(Schirmer, 2006, S. 11-13)
Beuys hat ja dann auch durch seine Wahrnehmung, sein Schaffen und seine Werke die Plastik aus dem materiellen Bereich (erkalteter kristalliner Zustand der Materie) in den Energiebereich (Wärme- und Zeitcharakter) mit der Grundidee der „sozialen Plastik“ erweitert. Hier, im „flüssigen Feld der sozialen Plastik“, wird aber gerade im Bereich der kohärenten Wechselwirkungen von Bewusstsein, Tätigkeit/Energie und Materie noch enorm viel zu gestalten sein. Denn wir erkennen deutlich den Zustand unserer jetzigen sozialen Plastik in der wir leben und schaffen, wenn wir sie über die Objekte und Aktivitäten der in ihr wirkenden Menschen auf das Bewusstsein hin untersuchen und damit die Wahrheit der von uns allen geschaffenen sozialen Plastik erkennen.
1) Ähnlich formuliert Rainer Maria Rilke schon 1908 in seinem Sonett „Archaischer Torso Apollos“: „… denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.“ (Rilke, 1908, zitiert nach (Hrsg) Ernst Zinn (1998): Sämtliche Werke – die Gedichte, S. 503)